Kriterium „Zielgruppenbezug“

Die Zielgruppe einer gesundheitsfördernden Maßnahme sind diejenigen Personen, deren gesundheitliche Lage verbessert werden soll. Die Bezeichnung „Zielgruppe“ für jene Menschen, denen eine Maßnahme zugutekommen soll, könnte zunächst eine falsche Assoziation wecken, es handele sich dabei gewissermaßen um passive „Objekte“, auf die mit der gesundheitsfördernden Maßnahme „gezielt“ werde. Dies ist jedoch keineswegs gemeint, ja es widerspricht sogar dem Grundverständnis der Gesund­heits­förderung. Denn hier sind Beteiligung (Partizipation) und Befähigung (Empower­ment) der einbezogenen Personen und Gruppen elementare Bestandteile. Der Begriff „Zielgruppe“ eignet sich daher zwar für die Planung eines Angebotes, nicht aber bei dessen Umsetzung oder in der Kommunikation mit den angesprochenen Personen­gruppen. Sie sollten vielmehr immer konkret benannt werden (z. B. als „Alleinlebende, körperlich mobile ältere Menschen im Stadtteil XY“) und als Expertinnen und Experten der eigenen Lebenssituation aktiv in Entwicklung und Umsetzung des gesundheitsfördernden Angebotes eingebunden werden.

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Bedeutung des Zielgruppenbezugs

Um einen Beitrag zur Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit leisten zu können, sollten in der Planungsphase die Lebensbedingungen der benannten Personengruppe möglichst präzise beschrieben werden. Dies umfasst Probleme und gesundheitliche Belastungen, die sich aus einer schwierigen sozialen Lage bzw. aus sozialer Benachteiligung ergeben sowie Potenziale und Ressourcen der Zielgruppe. Diese Beschreibung sollte keine Formulierungen enthalten, die von der Zielgruppe als stigmatisierend oder diskriminierend empfunden werden können.

Zusammenhang zwischen sozialer Lage, Gesundheit und Teilhabeförderung
Im Alter wird der Zusammenhang von sozialer Lage und Gesundheit besonders deutlich: Die materielle Lage ist aufgrund der fehlenden Erwerbstätigkeit kaum noch änderbar und gesundheitliche Einschränkungen rücken in dieser Lebensphase stärker in den Fokus. Doch die soziale Ungleichheit im Alter hat nicht nur Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Gesundheit. Sie schlägt sich ebenso auf die Teilhabechancen dieser Personengruppen nieder, beispielsweise bei der Freizeitgestaltung oder der Möglichkeit, gesundheitsfördernde Angebote wahrzunehmen. Viele ältere Menschen in Armutslagen empfinden Scham über ihre Situation, ziehen sich zurück und isolieren sich. Für die selbst wahrgenommene Lebensqualität ist soziale Teilhabe jedoch von zentraler Bedeutung.

Zielgruppenspezifischer und bedarfsgerechter Zugang
Soll die Gruppe der älteren Menschen in schwieriger sozialer Lage durch Angebote der Gesundheitsförderung erreicht werden, bestehen oftmals Zugangsbarrieren, die aufgrund zu geringer oder fehlender Kenntnisse über die jeweiligen Besonderheiten und Bedarfslagen der älteren Menschen entstehen. Eine exakte Beschreibung der Zielgruppe und ihrer Lebenslage sollte deshalb immer der Ausgangspunkt für die Konzeption einer Maßnahme sein. Nur so können spezifische Zugangswege überhaupt in Erfahrung gebracht und Zugangshürden aus dem Weg geräumt werden.

Erfahrungen

Bei älteren Menschen mit einem Pflegebedarf geht es bei der Gestaltung von Angeboten und auch der Pflege selbst darum, die Persönlichkeiten und Biografien besonders zu berücksichtigen. Dass in diesem Zusammenhang Kultursensibilität weit mehr bedeutet, als sensibel mit dem Migrationshintergrund oder der sexuellen Identität älterer Menschen umzugehen, betont das Netzwerk „Anders Altern“ in Berlin: „Wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre das vor allem der Aspekt, dass kultursensible Pflege wirklich ernst genommen wird! Alle Menschen sollten ihre persönliche Biografie im Alter fortsetzen können. Wenn von kultursensibler Pflege gesprochen wird, dann wird oft in erster Linie an die Migrantinnen und Migranten oder die Schwulen und die Lesben gedacht. Das halten wir für zu kurz gedacht. Egal ob eine Friseurin aus Düsseldorf oder ein kaufmännischer Angestellter aus Hamburg, jeder Mensch hat seine eigene Lebensgeschichte und wenn diese gesehen wird, dann sehen wir auch eine Möglichkeit, dem Älterwerden und dem Leben im Alter gerecht zu werden.“
(
Marco Pulver & Dieter Schmidt, Netzwerk Anders Altern, Berlin)
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Umsetzungsstufen des Zielgruppenbezugs

Stufe 1: Die Zielgruppe ist nicht eingegrenzt

Aus der Konzeption der Maßnahme geht nicht oder nur indirekt hervor, an welchen Personenkreis sie sich richtet.

Beispiel Stufe 1: Teilhabeförderung bei älteren Menschen im Quartier
Es ist bekannt, dass sich gesunde Lebenswelten, wie z. B. ein Stadtteil/Quartier oder das direkte Wohnumfeld, für ältere Menschen in den Bedingungen vor Ort ausdrücken. Außerdem ist bekannt, dass ältere Menschen aufgrund von Mobilitätseinschränkungen verstärkt von Isolation betroffen sein können. Ein Stadtteilverein hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, auf die mögliche Isolation öffentlich aufmerksam zu machen und Verbesserungsmaßnahmen zu initiieren. Allerdings geht aus der Planung bisher nicht hervor, an welche älteren Menschen mit Mobilitätseinschränkungen sich die Maßnahme genau richtet.

Stufe 2: Die Zielgruppe ist genauer bestimmt, jedoch ohne Bezug auf deren soziale Lage

Die Maßnahme ist auf einen bestimmten Personenkreis älterer Menschen eingeschränkt. Es fehlt jedoch eine ausdrückliche Schwerpunktsetzung auf Menschen in schwieriger sozialer Lage.

Beispiel Stufe 2: Teilhabeförderung bei älteren Menschen im Quartier
Um das Problem von Isolation im Alter zielgruppenspezifisch anzugehen, haben die Mitarbeitenden des Stadtteilvereines recherchiert, welche Altersgruppen am stärksten betroffen sind und welche unterschiedlichen Arten von Isolation es in den unterschiedlichen Phasen des Alters gibt. Sie erfahren aus der Fachliteratur, dass für viele Personen der Eintritt ins Rentenalter eine kritische Schwelle darstellt. Eine weitere Annahme ist, dass die im höheren Lebensalter zunehmenden Mobilitätseinschränkungen zu sozialer Isolation führen oder diese verstärken können. Die ersten Maßnahmen zielen daher darauf, Zugänge zu älteren Menschen nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und zu hochaltrigen Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu erhalten. Zur Eruierung möglicher Zugangswege werden in der Projektplanungsphase Expertinnen und Experten eingeladen, die zu dem Thema Vereinsamung in diesen zwei Lebensphasen besondere Fachkenntnisse haben.

Worauf können wir achten?

Die Zielgruppe kennen
Eine umfangreiche Kenntnis der Zielgruppe hilft dabei, das Angebot an die Bedürfnisse der älteren Menschen anzupassen, so dass die Zielgruppe das Angebot annimmt und nutzt.

Stufe 3: Die Zielgruppe ist klar bestimmt, mit allgemeinen Bezug auf deren soziale Lage

Bei der Konzeption und Umsetzung einer Maßnahme wird berücksichtigt, dass soziale Benachteiligungen und gesundheitliche Belastungen zusammenhängen. Die gesundheitlichen Belastungen und Probleme, die aus einer schwierigen sozialen Lage resultieren, werden benannt, jedoch geschieht dies lediglich auf Grundlage allgemeiner Informationen (beispielsweise allgemeiner Studienergebnisse).

Beispiel Stufe 3: Teilhabeförderung bei älteren Menschen im Quartier
Bei den Recherchen des Stadtteilvereines zu den Themen der sozialen Isolation und Vereinsamung älterer Menschen zeigt sich, dass nicht nur spezifische Lebens­ereignisse (wie beispielsweise der Übergang aus dem Berufsleben in den Ruhestand oder das sehr hohe Lebensalter) von Bedeutung sind. Es sticht vielmehr ein alle Lebensphasen prägendes Querschnittsthema heraus. Nämlich, dass insbesondere jene Menschen von Isolation betroffen sind, die sich in einer schwierigen sozialen Lage befinden. So belegt der Armutsbericht einer Wohlfahrtsorganisation, dass Menschen mit Migrationshintergrund sowie armutsbedrohte Menschen im Vergleich zur Mehr­heits­bevölkerung erhöhte Vereinsamungsrisiken tragen. Diese Ergebnisse werden zum Anlass genommen, beide Personengruppen bei der Konzeption des Angebotes stärker zu berücksichtigen. Den Engagierten des Stadtteilvereines ist allerdings noch nicht klar, was dies für ihre konkrete Arbeit vor Ort bedeutet. Denn spezifische Daten über den Zusammenhang von Vereinsamung und sozialer Lage sind dort noch nicht erhoben worden.

Worauf können wir achten?

Vorhandenes Wissen einbeziehen
Nutzen Sie aktuelle Veröffentlichungen und Studien zu gesellschaftlichen Entwicklungen und zur sozialen und gesundheitlichen Lage älterer Menschen für Ihre Vorbereitung und um die Ausgangssituation Ihres Projektes zu beschreiben.

Stufe 4: Die Zielgruppe ist klar bestimmt und ihre Lebenslage vor Ort sind bekannt und berücksichtigt

Berücksichtigt man die konkreten Lebensbedingungen und Problemlagen vor Ort, lässt sich der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und gesundheitlichen Problemen besser verstehen und in die Konzeption des Projektes einbeziehen. Indem Vertreterinnen und Vertreter der Zielgruppe sowie Multiplikatorinnen und Multiplikatoren in die Planungsphase eines Projektes integriert werden, wachsen Wissen und Verständnis über die konkreten Bedarfslagen der Menschen in sozial schwierigen Situationen.

Beispiel Stufe 4: Teilhabeförderung bei älteren Menschen im Quartier
Zur Konzipierung eines Projektes möchte der Stadtteilverein mehr über die älteren Menschen erfahren, die von Isolation betroffen sind. Er erweitert seine Recherchen und versucht, lokale bedarfsabfragen aus dem Quartier ausfindig zu machen. Dafür werden beispielsweise kommunale Gesundheitsberichterstattungen herangezogen, aber auch kleinere Erhebungen von lokalen Einrichtungen, wie z.B. der Bericht eines lokalen Stadtteilzentrums über Angebote für ältere Menschen und deren (Sozial-)Struktur. Der Stadtteilverein achtet darauf, Betroffene aus der Zielgruppe bereits in der Planungsphase des Projektes einzubeziehen. Über ausführliche Gespräche mit potentiellen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, die in ihrer Tätigkeit Berührungspunkte zu älteren isolierten Menschen haben (beispielsweise Hausärztinnen und -ärzte, Kranken­gymnastinnen und -gymnasten oder Apothekerinnen und Apotheker), erfährt der Stadtteilverein viele lokale Details, die in keinem offiziellen bericht zu finden sind.

Worauf können wir achten?

Die Zielgruppen sind zugleich auch Beteiligte
Die so präzise wie möglich in der Konzeption beschriebenen Zielgruppen sollten schon an der Planung der Maßnahme beteiligt werden, so dass sie im Sinne von Partizipation gleichzeitig auch Beteiligte sind.


Erfahrungen Stufe 4
Wie wichtig es ist, die Nähe zur Zielgruppe aufzubauen und zu halten sowie diese in die Ausrichtung der Maßnahmen mit einzubeziehen, beschreibt die Projektleitung vom Projekt „Landengel“ der Stiftung Landleben: „Im Projekt Landengel versuchen wir sehr viel bei den älteren Menschen vor Ort zu sein. Vor allem in ländlichen Gebieten braucht es unheimlich viel Vertrauen, bis man mit neuen Angeboten von den Bewohnerinnen und Bewohnern akzeptiert wird. Das Vertrauensverhältnis kann gestärkt werden, indem man ständig auf das Angebot hinweist und bei den Menschen vor Ort ist, um mit ihnen zu reden. Wir reflektieren zudem unsere Angebote fortlaufend in offenen Gesprächen mit der Zielgruppe. Nur so lässt sich herauskristallisieren, was wirklich akzeptiert und langfristig genutzt wird. Dabei geben wir häufig auch Fragebögen an die Leute heraus, in denen wir fragen: ‚Wie gefällt es Ihnen? Was hätten Sie gern besser? Was ist schlechter?‘. Das ist für uns der Start für eine erfolgreiche Umsetzung.“
(Christopher Kaufmann, Landengel, Thüringen)
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Handlungsempfehlung zum Zielgruppenbezug

Berücksichtigen Sie Vielfalt im Alter!
Setzen Sie sich bewusst mit den vorherrschenden Altersbildern in Ihrem Wirkungsfeld auseinander. Ein vergleichender Blick in andere Lebens- und Gesellschaftsbereiche kann dabei helfen und die Perspektive erweitern. Interessant und hilfreich kann hier der 6. Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sein. Er thematisiert verschiedene Altersbilder, Diversität im Alter und einen ressourcenorientierteren Umgang mit Fragen des Alters.

Good Practice-Beispiel

Netzwerk „Für mehr Teilhabe ältere Menschen in Kreuzberg“
Das Netzwerk „Für mehr Teilhabe älterer Menschen in Kreuzberg“ hat sich zum Ziel gesetzt, im Kreuzberger Südwesten mit rund 60.000 Bewohnerinnen und Bewohnern neue Wege der Teilhabeförderung älterer Menschen zu beschreiten. Insbesondere geht es darum, soziale und kulturelle Teilhabe der Personen zu fördern, die von klassischen Maßnahmen und Einrichtungen bisher kaum erreicht werden. Dazu zählen sozial benachteiligte Menschen in spezifischen problemlagen. Dies sind insbesondere von Altersarmut betroffene ältere Menschen, alleinstehende ältere Menschen sowie ältere Menschen mit Migrationsgeschichte. Hintergrund ist, dass Friedrichshain-Kreuzberg aktuell der Berliner Bezirk mit der höchsten Grundsicherungsquote für Menschen ab 65 Jahren ist. Bereits jeder zehnte Ältere ist dort von Armut betroffen. Zu beachten sind die sozialen Unterschiede innerhalb der Personengruppe der Älteren. Während die Grundsicherungsquote bei Menschen mit Migrationshintergrund in diesem Bezirk bei 24 Prozent liegt, beträgt diese bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund etwa acht Prozent. Zu den Zielgruppen des Projektes zählen daher ältere Menschen, die unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen teils zurückgezogen leben und insbesondere ältere Frauen und Männer mit Migrationshintergrund. Von ihnen haben 62 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung und konnten während der Zeit ihrer Berufstätigkeit oft nur geringe Rentenansprüche erwerben.
Zum Projekt

Hinweis

Weitere anschauliche Erfahrungen für den Zielgruppenbezug dokumentieren sich in den Projekten, die vom Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit bereits als Good Practice-Projekte ausgezeichnet wurden. Beispiele können über die Projektdatenbank recherchiert und abgerufen werden.

Weitere Kriterien